Fundstück der Woche 51/2020

Nachricht aus der Gefangenschaft, 22. Dezember 1870

Das Fundstück der Woche 51/2020 weist auf eine Gefangenschaft während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 hin. Ein unbekannter gefangener Soldat aus einem Lager in Stettin schreibt seinem Kameraden der Mobilgarde, der im Lager auf der Feste Kaiser Franz gefangen gehalten wird. Leider ist nur der Umschlag dieses Briefes aufbewahrt worden und zu uns gekommen.

Krieg ist immer etwas Schreckliches. Mein Großvater pflegte zu sagen: „Krieg ist, wenn Leute, die sich nicht kennen, sich töten, für Leute, die sich zwar kennen, sich aber nicht töten.“ Er selbst lebte fünf Jahre während des Zweiten Weltkrieges in österreichischer Gefangenschaft. Eine schlimme Zeit, auch wenn er durch die Genfer Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen vom Jahr 1929 geschützt war.

Fürsorge für die Kriegsgefangenen gibt es aber schon länger. Am Anfang der Französischen Revolution war es noch gang und gäbe, Gefangene in die Heimat zurückgehen zu lassen, unter dem Versprechen, so lange nicht wieder an dem Krieg teilzunehmen, bis sie offiziell ausgetauscht wurden. Aber mit dem Aufkommen der großen Armeen in der napoleonischen Zeit ist dieser Brauch nicht mehr ausreichend und erste Lager entstehen. Mit der Gründung des Internationalen Roten Kreuzes in Genf 1863 wurde dann auch für Verletzte und Amputierte gesorgt.

Abb. 1: Deckblatt des Umschlags mit Poststempel vom 22.12.1870 aus Stettin

Tatsächlich erklärte Frankreich am 19. Juli 1870 den Krieg und eröffnete die Feindseligkeiten, wurde allerdings bereits Anfang August völlig überrannt. Nach dem deutschen Sieg von Sedan am 2. September standen die Preußen bereits am 17. September vor Paris und belagerten die Stadt. Sie erreichten auch die Loire, was die maximale Ausdehnung des Feldzuges darstellte. 375.000 französische Kriegsgefangene wurden im Laufe des Konfliktes nach Deutschland gebracht und an den verschiedensten Stellen unterbracht, zunächst in ehemaligen Festungen, später in Zelt- bzw. in Barackenlagern. In Koblenz wurden zwei Kriegsgefangenenlager errichtet, das eine bei der Feste Kaiser Alexander auf der Karthause und das andere auf dem Gelände der Feste Kaiser Franz (siehe Fundstück der Woche 34/2018, Wiedereinstellung in Vorbereitung). Die im Lager verstorbenen Gefangenen ruhen heute noch auf dem Hauptfriedhof auf der Karthause sowie auf dem Franzosenfriedhof in Lützel.

Unser Adressat, „Monsieur Lucien Gril“, wird als „Garde mobile“ bezeichnet. Was ist aber eine Mobilgarde?

Die französische Nationalgarde wurde als eine Art Bürgermiliz während der Französischen Revolution gegründet und sollte für die Sicherheit des Landes sorgen, was auch die Verteidigung des Vaterlandes beinhaltete. Sie kämpfte an den französischen Grenzen und zeichnete sich schließlich kurz vor dem Fall Napoleons 1814 bei der Verteidigung von Paris aus. Während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beteiligte sie sich an den verschiedenen Revolutionen in Frankreich, bis zu der Einführung des zweiten Kaiserreiches. Napoleon III. ließ sie dann 1868 reformieren, um als Aushilfe der offiziellen Armee zu dienen. Sie trug dann den Namen „Garde National Mobile“.

Die französische Armee basierte damals auf der Konskription, allerdings nicht, wie wir es heute kennen (oder bis vor wenigen Jahren kannten). Damals haben die jungen Männer ein Los gezogen. Wer eine „schlechte“ Nummer zog, musste für die nächsten sieben Jahre zum Dienst. Die, die eine „gute“ Nummer gezogen hatten, wurden der Nationalgarde zugeführt.

Die Organisation der Garde entsprach derjenigen der Zivilverwaltung. Der Dienst zuhause dauerte nur fünf Jahre. Die Offiziere waren meist aus den dortigen Notabeln gewählt. Die Ausrüstung der Soldaten wurde von der lokalen Administration geschaffen, aber meist stellte die Stadt nur das Tuch zur Verfügung und die Rekruten ließen sich ihre Uniform daraus schneidern. Manchmal mussten sie einige Gegenstände auch selbst kaufen. Die Organisation der Einheiten lief meist auf der Departement-Ebene: Die Nationalgarde des Departement Calvados trug zum Beispiel die Bezeichnung „15. Regiment der Mobilen des Calvados“. Insgesamt sollte die Mobilgarde eine zusätzliche Truppe von 600.000 Mann bilden und hierdurch die Armee verdoppeln.

Abb. 2: Garde mobile mit Tabatièregewehr, 1870

Allerdings war bei Kriegsbeginn die Mobilgarde schlecht ausgerüstet und wenig trainiert. Nur 15 Übungstage sollte sie in der Friedenszeit absolvieren, was natürlich für den Kriegseinsatz unzureichend war. Die Garde war daher entsprechend unvorbereitet und schlecht organisiert. Aber der Krieg zerstörte 9/10tel der regulären Armee, sodass die Mobilgarde früh eingesetzt werden musste. Nach der Niederlage von Sedan bildeten diese Einheiten die einzige nennenswerte Militärmacht Frankreichs, die sich noch sechs Monaten lang alleine dem Feind stellen musste und eine wesentliche Rolle bei der Verteidigung des belagerten Paris spielte. Sie wurde schließlich nach dem Frieden von Versailles 1871 aufgelöst.

Die Zuordnung der Einheit des Kameraden Gril erweist sich aber als schwierig. Leider ist die Adresse für unser Verständnis unvollständig: Auf dem Umschlag stehen zwar „6. Bataillon“ und „4. Kompanie“, jedoch, ohne die Regimentsnummer oder den Namen des Departements ist diese Einheit nicht näher zu identifizieren. Hierdurch können wir nicht erfahren, woher Lucien Gril stammte und wie sich der Krieg für ihn entwickelt hatte, an welchen Schlachten er teilgenommen hatte und wo er möglicherweise gefangen genommen wurde. Da allerdings sehr wenige Mobilgarden bis zu sechs Bataillone vorwiesen, insbesondere in der Bretagne wie zum Beispiel die Departements der Côtes du Nord oder der Ille-et-Vilaine, könnte er eventuell aus der Bretagne stammen.(1)

Immerhin taucht der Name dieser Mobilgarden nicht in der Liste der auf dem Franzosenfriedhof begrabenen Soldaten auf (siehe hierzu Fundstück der Woche 08/2018, Wiedereinstellung in Vorbereitung). Möglicherweise konnte Gril nach dem Konflikt nach Hause zurückkehren.

Damals reichte aber die aufgeschriebene Bezeichnung und der Brief ist gut angekommen. Am Rande steht mit Bleistift geschrieben „am 28.12.70 erhalten“ und „am 29.12.70 zugestellt“. Interessanterweise wurde dieses Schreiben per Feldpost zugeschickt.

Abb. 3: Feldpost, Gemälde von Emil Hünten (1827-1902), 1870 oder 1872

Feldpost gab es schon lange in Preußen. Schon im Siebenjährigen Krieg sind Einsätze gemeldet. Aber die modernere Welt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte Veränderungen in dem Postwesen mit sich. Schon im Deutschen Krieg 1866 gegen Österreich musste die Feldpost mehr als 30.000 Briefe befördern. Es forderte eine Umorganisation, in deren Zuge jedes Armeekorps sein Feldpostamt erhielt. Zusätzlich wurden in den Divisionen Feldpostbüros sowie eine besondere Etappen-Postdirektion eingerichtet, um die Verbindungen sicherzustellen. Nach dem Sieg über Österreich gründete Preußen am 1. Juli 1867 den Norddeutschen Bund. Das Generalpostamt, als erste Abteilung des Bundeskanzleramts, wurde dann beauftragt, den gesamten Postverkehr im Bund zu regeln und firmierte ab dieser Zeit unter dem Namen „Norddeutscher Postbezirk“. Der neue Generalpostmeister Heinrich von Stephan arbeitete den Dienst komplett aus, um die verschiedenen vorherigen landesabhängigen Postämter zu vereinigen und gründete hierfür verschiedene Oberpostdirektionen.(2)

Während des Krieges gegen Frankreich waren 77 Feldpostanstalten mit 292 Beamten, 202 Unterbeamten, 294 Postillionen, 869 Pferden und 188 Fahrzeugen im Einsatz. Es stellte einen Feldtest für die neue Organisation dar. Die Kunst war, trotz der Geheimhaltung der Truppenbewegungen die richtige Zustellung an die Truppenteile zu sichern. Die entsprechende Dienstordnung war daher ebenfalls geheim. Mehr als 90 Millionen Briefe wurden in diesem Krieg zugestellt. Der Norddeutsche Postbezirk übernahm auch den zivilen Postverkehr in den besetzen Gebieten in Frankreich sowie eben denjenigen mit den Gefangenen. Mit der Gründung des Deutschen Reichs wurde die Post erneut verändert und zum 1. Januar 1872 in „Deutsche Reichs-Post“ umbenannt.(3)

Abb. 4: Rückseite des Briefumschlags, 1870

Ein interessanter Hinweis steht auf der Rückseite des Umschlags: „Franco laut Ordre des 7ten August 1870“, auf Deutsch geschrieben. Hier ist eine besondere Bestimmung der Feldpost gemeint, die den Briefverkehr von Gefangenen erlaubt. Die Dienstanweisung der Feldpost Nr. 23 vom 7. August 1870 ermöglicht den Gefangenen sich portofrei zu schreiben, daher diese Aufschrift anstelle einer Briefmarke. Solche Vermerke befinden sich auf Briefen zwischen Mitte September 1870 und Mitte Juni 1871. Immer mit dem Hinweis, in der einen oder anderen Art („Frei laut…“, „Porto laut …“), angelehnt an den offiziellen Text der Verordnung „Portofrei laut Verfügung vom 7. August 1870“. Allerdings waren nur „gewöhnliche Postsendungen“ von der Gebühr befreit. Pakete mussten wohl frankiert werden.(4)

An dieser Stelle sind noch zwei weitere Aufschriften zu vermerken, die uns allerdings keine weiteren Informationen liefern. Die eine befindet sich auf der linken Seite, wo in Deutscher Schrift „7te Bon – 4te Cie“ geschrieben steht, was „siebtes Bataillon vierte Kompanie“ bedeuten soll. Da Herr Gril auf der Vorderseite als Mitglied des sechsten Bataillons, vierte Kompanie genannt wird, ist dies rätselhaft. Ob sein Freund sich geirrt hat, und die preußische Gründlichkeit dies vor der Zustellung korrigierte? Die letzte Aufschrift wirft ebenfalls Fragen auf. Es scheint zu stehen „Rendu Nonnenberg“. Ob diese Gemeinde bei Oberpleis im Westerwald 1870 eine Sortierungseinrichtung des Feldpostdienstes beherbergte? Oder ist hier etwas ganz anderes gemeint, was uns entgeht? Dies wird wohl ein Rätsel bleiben müssen.

Jean-Noël Charon

Anmerkungen

(1) Freundliche Mitteilung von Dr. Joachim Schaaf, Schriftführer der ArGe NDP.
(2) Vgl. Arbeitsgemeinschaft Norddeutscher Postbezirk, https://www.arge-ndp.de/index.php/sammelgebiet-ndp/geschichte-des-ndp , am 26.11.2020 aufgesucht.
(3) Ebd.
(4) Vgl. http://www.loire1870.fr/pages/pa_mobile/mobile_mobilise.html am 11.11.2020 aufgesucht.

Quellennachweise

Abbildungen

Abb. 1: Sammlung Jean-Noël Charon, Deckblatt des Umschlags mit Poststempel vom 22.12.1870 aus Stettin
Abb. 2: Garde mobile mit Tabatièregewehr, 1870.
Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei
Abb. 3: Feldpost, Gemälde von Emil Hünten, 1870 oder 1872.
Quelle: Wikimedia Commons, Museum für Kommunikation Frankfurt, gemeinfrei
Abb. 4: Sammlung Jean-Noël Charon, Rückseite des Umschlags